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Leseprobe

 

 

Petra Weinberger


Der Schnüffler von New York

Erster Band:

Der Atem der Mafia - Wie alles begann



















 


(c) Copyright 2002 by Petra Weinberger
Alle Rechte bei der Autorin
Titelbild: http://www.freeimages.co.uk
Lektorat und Cover-Erstellung mit BoD-Cover-CD:
M. Rademacher, Vechta (http://www.literad.de)
Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 3-8311-3106-6
Infos und mehr über die Autorin:
http://www.jweinberger.de




Sämtliche Personen, Lokalitäten und Ereignisse in dieser Serie sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen und Lokalitäten wären reiner Zufall. Alle Angaben zu historischen Ereignissen in der Anti-Vietnam-Bewegung sind ohne Gewähr.

















Wie alles begann


   
Schicksal. Nur ein Wort. Im Lexikon zu finden unter 'S'. Doch was ist dieses Wort? Was bedeutet es? Für viele Menschen ist es der Weg, der ihnen vom Zeitpunkt ihrer Zeugung an vorgegeben ist. Ungeachtet dessen, daß dieser Mensch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als ein Zellhaufen ist, entstanden aus einem Ei und einer Spermie, doch gefüllt mit den Genen und der Veranlagung aus ihm ein menschliches Wesen entstehen zu lassen. Unabhängig davon, welche Erziehung, welche Schulbildung, welchen Lebensstandard dieser Mensch hat. Nach der Überzeugung vieler wird der Mensch ganz ungeachtet all seiner Wünsche und geplanten Ziele seinen, ganz speziell für ihn bestimmten Weg gehen. Den Weg, den das Schicksal für ihn so vorgesehen hat.
    Und für die Anderen ist das Schicksal einfach ein Teil, der das eigene Leben bestimmt und verändert. Das zuschlägt und einen Menschen von seinem geplanten Ziel abweichen und eine andere Richtung als die gewünschte einschlagen läßt. Das alle möglichen Variablen, Höhen und Tiefen eines Menschen berücksichtigt und doch scheinbar aus heiterem Himmel zuschlägt, um alles über den Haufen zu werfen, was bisher seine Gültigkeit hatte.
Mich traf das Schicksal in einem Augenblick, als ich mir über dieses einfache Wort noch keine großen Gedanken gemacht hatte. Als ich gerade 14 Jahre in New York City lebte, nachdem ich mit drei Jahren aus Frankreich in die Staaten emigriert hatte. Als ich die Columbia University besuchte und mit meinen Freunden eine noch unbeschwerte Zeit verbrachte. Zwischen College und unserem Lieblingstreff, Martas Snackbar in Greenwich Village, hin und her pendelte und mit meiner ersten großen Liebe, Caren Bernstein, mehr Zeit verbrachte, als bei meinen Eltern zu Hause. 
    Es traf mich als ich gerade 18 Jahre alt und mir noch nicht sicher war, ob die Faszination für einen der Kommilitonen nur von pubertärer Ideologie hervorgerufen wurde, oder doch etwas mit homosexueller Begierde zu tun hatte. In einer Zeit, in der das neue Bewußtsein allgemein mit 'make love, not war' bezeichnet wurde und lange Haare auch bei Männern üblich waren. Als der Central Park zum Tummelplatz für Hippies wurde, die dort ganz offen gegen den Vietnamkrieg demonstrierten und LSD die Modedroge Nummer 1 war. Einer Zeit, in der es unüblich war, über Sex zu reden und in der Homosexualität noch als etwas abartiges, verbotenes und krankes angesehen wurde. Als Schwule, Lesben und Transsexuelle noch wie Verbrecherbanden behandelt und von der Polizei bespitzelt und angeprangert wurden. Als Sex zwischen zwei Männern noch gesetzlich verboten war. Zumindest wenn einer der beiden seinen 21. Geburtstag noch nicht gefeiert hatte. 
    Mein Schicksal traf mich völlig unvorbereitet und ließ mich einen Weg einschlagen, von dem ich niemals erwartet hätte, ihn zu gehen. Ein Tag, der mich von meinem geplanten ruhigen Leben ins Abenteuer stürzte und in den tiefsten Sumpf der Großstadt. Der mich den eisigen Hauch der Hölle spüren ließ, des Bösen, des übelsten Abschaums der Gattung Homo Sapiens.


~*~

 

 


 

18. Mai 1967; 8 Uhr abends


   
Pünktlich stand ich bei Caren Bernstein vor der Tür. Wir waren verabredet. Wollten erst zu Marta gehen und danach etwas tanzen. Doch Caren war nicht da. Ihre Mutter erklärte mir, daß sie bereits das Haus verlassen hätte. Ich stürmte also die Stufen wieder hinunter und sah mich suchend um, doch Caren war nirgends zu entdecken. 
War sie vielleicht alleine losgezogen? - Nein, das paßte nicht zu Caren. Noch einmal suchte ich den ganzen Block ab. Wieder vergebens. Als ich zurück ins Haus wollte, sah ich am Bordstein etwas Rotes liegen. Ich trat näher heran und bückte mich. 
    Es war ein Halstuch und es gehörte Caren. Noch am Mittag hatte sie es getragen. Ich hatte es ihr ein Jahr zuvor zum Geburtstag geschenkt.
Erneut eilte ich ins dritte Stockwerk und klopfte heftig an die Tür. 
    "Alain, hast du Caren denn nicht gefunden?", fragte ihre Mutter erstaunt. 
    "Nein. Aber ich fand ihr Halstuch unten am Straßenrand. Hat sie gesagt, daß sie noch irgendwohin wollte?" 
    Mrs. Bernstein verneinte: "Vielleicht haben Jack oder Phil sie schon abgeholt. Sie sagte, daß ihr euch heute Abend mit ihnen bei Marta treffen wolltet. Versuche es doch bei ihr. Ich bin sicher, daß sie dich dort bereits erwartet", schlug sie vor.
    Ich nickte, steckte das Halstuch ein und stapfte verwirrt hinunter. Der Bus brachte mich schnell ins Village. 
    Die Freunde saßen bereits am Tresen und unterhielten sich angeregt, als ich eintrat. Suchend sah ich mich in der Runde um. Caren war nicht dabei. Vielleicht war sie kurz ...? 
    Ich warf einen Blick in den Ladies' Room, doch er war leer. Caren war also auch hier nicht. 
    "He, Kleiner, was suchst du denn da?", rief Phil lachend hinter mir her. 
    "Verdammt, nenn mich nicht immer Kleiner!", fauchte ich gereizt und stapfte mürrisch nach draußen. Knirschend schlug die Tür hinter mir zu. 
    Im Lokal hörte ich die Freunde schon wieder flachsen. Kens Baß dröhnte laut bis auf die Straße hinaus. Ken Carston war erst im letzten Jahr zu unserer Clique gestoßen. Er war ein lieber Kerl, etwas zurückhaltend, dafür jedoch mit einem um so lauteren und tieferen Baß. Eine solche Stimme traute man ihm gar nicht zu, wenn er einem begegnete. War Ken doch groß gewachsen und sehr schlank. Beinahe schon hager. Er studierte Jura und wollte sich später als Anwalt versuchen. 
    Ich gab einer leeren Cokedose einen Tritt und sah wütend die Straße entlang. Ich verstand Caren nicht. Weshalb hatte sie mich versetzt? Sie wußte, daß ich sie abholen würde. Weshalb war sie alleine losgezogen? Das war doch sonst nicht ihre Art.
    Hinter mir knirschte erneut die Tür. "He Al, was ist los? Du siehst verdammt mies aus." Es war Jack.
    Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und schüttelte betrübt den Kopf. "Nichts. Vergiß es." 
    "Nichts? Junge, so wie du dich benimmst, sind nicht nur die USA am untergehen. - Na komm erst mal mit rein und dann erzähle." 
    Ich seufzte und sah Jack voll an. Er ist ein prima Kerl, auf den man sich 100%ig verlassen kann und mein bester Freund. Ich kenne ihn, seit ich mit meinen Eltern in die USA kam. Mit ihm zusammen habe ich meine Kindheit verbracht. Wir sind wie Brüder. "Hast du Caren abgeholt?", fragte ich leise.
    Jack verstand: "Sie hat dich versetzt, stimmt's?" 
    Ich schwieg und sah noch einmal die Straße entlang.
Jack legte mir seine Hand auf die Schulter und schob mich in die Snackbar. Dort drückte er mich auf einen Barhocker und bestellte mir einen Kaffee. Ich schüttelte den Kopf und warf Marta einen verstohlenen Blick zu. "Kann ich ein Bier haben?" Normalerweise trinke ich keinen Alkohol, zumal er für Jugendliche unter 21 ja auch noch verboten ist. Doch an diesem Abend hatte ich irgendwie das Gefühl, daß mir Alkohol helfen würde. 
    Marta sah mich überrascht an und auch Ken und Phil wurden nun aufmerksam. "Alain, was ist los?", forschte Marta sanft und musterte mich. Sie war die Einzige, die mich immer mit vollem Namen ansprach. Meine Freunde nannten mich damals fast alle nur Al - oder 'Kleiner', was ich haßte, sie aber nicht kümmerte. Sie fanden es spaßig, mich so anzureden und mir damit klar zu machen, daß ich jünger als sie war und es besser sei, auf sie zu hören. 
    "Caren ist weg", sagte ich leise.
    "Vielleicht hat sie jemanden gefunden, der ihr besser gefällt?!", konnte sich Phil nicht verkneifen. 
    "Ach, hör schon auf. Verarschen kann ich mich selbst. Sagt mir lieber wo Caren jetzt ist."
"Hier war sie nicht mehr, seit du heute mittag mit ihr fortgegangen bist", erklärte Ken ernst. 
    Marta schob mir einen Kaffee zu, den ich seufzend annahm. Mitfühlend legte sie mir ihre Hand auf den Unterarm. Marta ist eher der mütterliche Typ, der immer ein offenes Ohr für die Probleme der Gäste hat. Doch so mancher hat sich aufgrund ihrer mammyhaften Erscheinung schon gewaltig in ihr getäuscht und fand sich dann auch, glaubte er, sie an der Nase herumführen zu können und seine Rechnung nicht begleichen zu müssen, schneller auf der Straße wieder, als ihm lieb war. Dies hatte schon bei den Gästen, die sie kennen, für einige Lacher gesorgt, denn Marta bekam stehts, was sie verlangte und sie verlangte nur das, was ihr zustand.
    Ich warf ihr einen dankbaren Blick zu und wußte, daß sie mich verstand.
    Gemeinsam rätselten wir, wo Caren stecken könnte. Als ich die Sache mit dem Halstuch erzählte, wurde Jack schweigsam. Phil runzelte ebenfalls die Stirn, doch dann grinste er wieder. "Vielleicht wurde sie von Räubern entführt, die nun ein dickes Lösegeld fordern? Oder sie wurde von der Mafia verschleppt, weil die interne Geheimnisse aus dem College wissen wollen?" 
    Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu. "Phil, du bist ein Arsch!"
    Marta tadelte ihn ebenfalls. Doch so richtig ernst nahm niemand die Sache. Außer Jack. Auch wenn er sonst nur Frauen im Kopf hat und ständig zu überlegen scheint, wie er das weibliche Geschlecht am besten für sich gewinnen kann, so hat er doch ein Gespür dafür, wenn er gebraucht wird. Und jetzt brauchte ich einfach seine ernsthafte und bedachte Art.
    "Ich suche sie jetzt", brummte ich nach der dritten oder vierten Tasse.
    "Warte, ich helfe dir. Mit dem Wagen geht es schneller und einfacher", bot Jack auch sofort an. Er schob mich in den Impala seines Vaters, den er sich wieder mal geborgt hatte, und trat das Gaspedal durch. 
    Ich überlegte, was geschehen sein konnte. Doch mir fiel nichts vernünftiges ein.
    "Hattet ihr heute mittag Streit?", riß mich Jack aus meinen Gedanken.
    "Nein. Wir haben uns ganz normal verabschiedet. Caren wollte auf mich warten. Ich sollte sie zu Hause abholen, doch sie war nicht mehr dort."
    "Vielleicht glaubte sie, daß du nicht mehr kommst?", schlug Jack vor.
    "Quatsch. Wir hatten uns für 8 Uhr verabredet und ich war Punkt 8 Uhr bei ihr."
    "Hat sie ihren Eltern nicht gesagt, ob sie vorher noch woanders hinwollte?"
    "Nein. Mrs. Bernstein meinte, daß Caren schon früher gegangen ist. Jack, ich weiß nicht was da schief gelaufen ist. Das ist doch nicht Carens Art. Du kennst sie doch. - Glaubst du, ihr ist etwas passiert?" 
    Jack lächelte kurz: "Nein, das glaube ich nicht. Caren weiß sich zu verteidigen." 
    Ich seufzte: "Hoffentlich behältst du recht."


~*~

 

 


 

19. Mai 1967; 5 Uhr morgens


   
Jack und ich hatten die ganze Nacht, vergeblich, nach Caren gesucht. Als mich Jack dann zu Hause absetzte, erwartete mich mein Vater schon mit bösem Gesicht: "Darf man fragen, wo sich der Herr die ganze Nacht herumgetrieben hat?"
    Müde und deprimiert stolperte ich in die Küche, angelte mir eine Coke aus dem Kühlschrank und ließ mich damit auf einem Hocker nieder. 
    "Ich habe dich etwas gefragt. Vielleicht antwortest du mal?", knurrte Dad unfreundlich. Er war schon immer sehr streng. Sein Motto: Es gibt Regeln, an die muß man sich halten, egal wie. Und eine solche Regel hatte ich verletzt, indem ich die ganze Nacht unterwegs war, ohne mich zu melden. Allerdings gibt es immer die Chance, sich zu rechtfertigen, solange man dabei ehrlich bleibt und keine faulen Ausreden gebraucht. Denn nichts haßt mein Vater mehr, als Unehrlichkeit.
    "Ich hatte mich gestern Abend mit Caren verabredet. Wir haben uns verpaßt. Ich weiß auch nicht was los ist." 
    "Und weshalb treibst du dich dann die ganze Nacht auf der Straße herum?", blaffte Dad weiter. 
    "Sorry! Jack und ich sind die ganze Nacht herumgefahren und haben sie gesucht." 
    Dad musterte mich kurz und wechselte schnell seinen Gesichtsausdruck. Ich habe nie verstanden, wie seine Stimmung von einer auf die andere Sekunde von Wut in Gutmütigkeit umschlagen konnte. Aber Dad schaffte es. "Vielleicht war sie beim Tanzen oder bei Freunden." 
    "Wir haben alles abgesucht. Dad, ich mache mir Sorgen. Vielleicht ist ihr ja etwas passiert." 
    "Das glaube ich nicht. Warte mal ab, sie ist sicher später im College. Du kennst doch die Girls. Vielleicht war es ja nur eine Laune von ihr." 
    Nein, ich kannte die Girls nicht, da ich, außer mit Caren, sonst noch keine Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt hatte. Mit Jack als Freund hat man bei den Girls kaum Chancen. Er verkörpert den von Mädchen so begehrten südländischen Typ und schnappt sie einem damit reihenweise vor der Nase weg.
    Caren war meine erste Freundin. Doch ich kannte Caren und ich wußte, daß sie nicht einfach so verschwand. Sie hätte mich nicht einfach versetzt. Dessen war ich mir sicher. 
    Ich seufzte und hoffte, daß Dad recht hatte und wir uns doch nur irgendwie verpaßt hatten. Daß sie längst zu Hause im Bett lag und friedlich schlief. 
    Mit der Coke zog ich mich in mein Zimmer zurück und warf mich auf mein Bett. Ich hätte noch etwas Schlaf gebrauchen können. Doch ich konnte nicht schlafen. Nicht jetzt. So lag ich nur da, starrte Löcher in die Luft und versuchte nachzudenken. 
    Als ich um 7 Uhr unter die Dusche sprang, hatte Mum bereits das Frühstück gemacht und ich noch immer keine plausible Erklärung für Carens Verschwinden gefunden. Außer der, daß ihr etwas zugestoßen sein mußte. Irgend etwas, daß sie davon abgehalten hatte, unser Treffen einzuhalten. 
    Aber was? Caren war absolut zuverlässig. Sie hätte mir irgendwie mitgeteilt, wenn sie aus irgendeinem Grund unser Treffen platzen lassen mußte. Und wenn sie es mir durch ihre Mutter hätte ausrichten lassen.
    Caren war auch nicht so naiv, daß sie sich von irgendeinem Typen hätte abschleppen lassen. Und gezwungen haben mitzukommen, konnte sie auch niemand. Caren konnte sich nicht nur mit Worten sehr gut verteidigen. Notfalls schrie sie um Hilfe. Sie war auch körperlich in der Lage, einen zudringlichen Verehrer abzuwehren. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, wie man solche Zeitgenossen am effektivsten auf Abstand hielt und Caren war durchaus in der Lage, dies auch umzusetzen. Ein Mitschüler in der Highschool hatte dies schon einmal zu spüren bekommen. Es hatte sich herumgesprochen und war auch im College schon bekannt. Seitdem war Caren zumindest vor Mitstudenten sicher. 
    Aber wie sah es aus, wenn sie irgendwelchen Gangstern in die Hände gefallen war? Wäre sie dann auch noch in der Lage gewesen, sich zu verteidigen? Würden Gangster einem Mädchen überhaupt eine Chance dazu lassen?
    Der Duft von gebratenen Eiern mit Speck, Kaffee und warmer Milch zog durch die ganze Wohnung. Während Dad seinen Kaffee genoß und Mum sowieso nur Milch trank, schob ich mein Frühstück beiseite und füllte mein Glas mit Orangensaft.
    "Junge, was ist los mit dir? Du ißt ja gar nichts. Ist dir nicht gut? Bist du krank?", fragte Mum auch schon besorgt. Sie ist immer besorgt, auch wenn es dafür keinen Grund gibt. Früher hatte ich oft befürchtet, sie würde sich irgendwelche Gründe einfallen lassen, um sich über irgend etwas Sorgen machen zu können. Später hatte mir mein Vater einmal erklärt, daß sie bevor ich geboren wurde, bereits ein Kind verloren hat. Ein Mädchen. Es starb, als Mum noch im Wochenbett lag. Mum hatte nie über das Baby gesprochen. Mein Vater vermutete, daß sie sich noch immer Vorwürfe machte und glaubte, daß sie am Tod meiner Schwester Schuld sei, was natürlich lächerlich ist. Meine Mutter hätte nichts an den Geschehnissen ändern können, dessen war ich mir genauso sicher wie Dad.
    "Er macht sich Sorgen um Caren. Sie hat ihn gestern Abend versetzt", nahm mir Dad die Antwort ab, was mir sofort einen mitfühlenden Blick meiner Mutter bescherte. 
    Ich leerte mein Glas und schob meinen Stuhl zurück. "Ich mache mich jetzt!"
    "Soll ich dich nicht noch ein Stück mitnehmen?", bot Dad an.
    Schnell schüttelte ich den Kopf. "Danke, aber ich will noch einmal bei Caren zu Hause vorbeischauen. Vielleicht ist sie ja jetzt da."
    Mit meinen Büchern unter dem Arm verließ ich schnell die Wohnung. Ich rannte die Amsterdam Avenue hinauf und stand 5 Minuten später bei Caren vor der Wohnungstür. 
    "Guten Morgen Alain. Bitte komm kurz herein", begrüßte mich Mrs. Bernstein freundlich.
    Ich nickte und trat in den kurzen Flur. Carens Mutter drückte die Tür hinter mir ins Schloß und sah mich sehr ernst an. Sie ist eigentlich eine herzensgute Frau. Doch auch sie hat ihre Grundsätze und wenn sich jemand nicht daran hält, dann bedenkt sie ihn mit einem sehr strengen Blick, bei dem man automatisch den Kopf einzieht und sich wie ein ertappter Sünder fühlt. Selbst wenn man nichts getan hat.
    "Mrs. Bernstein, ist ...", begann ich. 
    Doch sie winkte ab. "Bitte, Alain. Bevor du etwas sagst, lasse mich erst etwas loswerden. Danach kannst du dich gerne entschuldigen. Mr. Bernstein war heute Morgen, als er zur Arbeit ging, sehr wütend auf dich und Caren. Wenn ihr die ganze Nacht um die Häuser zieht und noch nicht mal daran denkt anzurufen, dann ist das sehr verantwortungslos von euch. Und zwar von euch beiden. Ich weiß nicht, was in Caren gefahren ist, doch ich hoffe, es ist nicht das geschehen, was mein Mann befürchtet. Denn dann wäre der Teufel los. Und jetzt erzähle mir bitte, was ihr heute Nacht gemacht habt." 
    Ich war wie vor den Kopf gestoßen und wußte im ersten Augenblick überhaupt nichts zu sagen. Schließlich schluckte ich einmal trocken. "Mrs. Bernstein, ich versichere Ihnen, daß ich mit Ihrer Tochter nicht intim war. Das meinten Sie doch, oder?" 
    Sie nickte nur. 
    "Ich habe Caren die ganze Nacht gesucht."
    Mrs. Bernstein wurde blaß. "Alain - ja, um Gottes Willen. Wart ihr denn nicht zusammen?"
    Ich schüttelte langsam den Kopf.
    Sie sah mich entsetzt an: "Oh mein Gott. Junge. Wir dachten ... Es tut mir so leid, daß wir dich ... Aber, wo ... wo ist Caren?"
    "Ich fahre zum College. Vielleicht ist sie dort", erklärte ich tonlos und hoffte, daß sie bei einer Freundin übernachtet hatte. 
    Die Sorge um Caren wurde immer beklemmender. Ich rannte bis zum Stop und erreichte den Bus gerade noch in letzter Sekunde. Ich hatte das Gefühl, als würde er schleichen. Unablässig dachte ich an Caren. Was mochte bloß geschehen sein? Ich verstand das alles nicht mehr.
Wieder zog ich ihr Halstuch aus der Tasche und betrachtete es nachdenklich. Wäre Caren nicht gewesen, dann hätte ich mich niemals für das College entschieden. Dann würde ich nun vermutlich in irgendeinem Blumenladen eine Ausbildung als Florist machen, wäre Busfahrer bei Greyhounds geworden oder hätte in einem Büro als Schreibkraft angefangen.
    Sie hatte nicht nur die Gabe, meinen Vater für sich zu gewinnen. Sie hatte auch mich fürs College begeistert und es sogar geschafft, daß ich mich für Physik eingeschrieben hatte. Ein Fach, daß für mich zu den furchtbarsten Schulfächern überhaupt gehörte. Doch Caren war davon überzeugt gewesen, daß es für meine Zukunft wichtig sei, egal welchen Beruf ich einmal wählen würde.
    Wenn es nach meinem Vater ginge, würde ich im Immobiliengeschäft einsteigen und meinem alten Herrn dabei zur Hand gehen. Er war sehr stolz auf das, was er sich aufgebaut hatte. Nach den Kriegswirren hatte mein Vater in Frankreich beim Wiederaufbau helfen müssen und aufgrund der schlechten Inflation kaum seine Familie ernähren können. Als mein Großvater kurz darauf starb, hinterließ er meinem Vater genug Geld, damit dieser mit Frau und Kind in den goldenen Westen emigrieren konnte. Ein gewagtes Unternehmen und die ersten zwei Jahre in der neuen Welt waren alles andere als einfach. Mein Vater hatte hart gearbeitet und sich vom kleinen Büroangestellten einer Immobilienagentur zu einem selbständigen Immobilienmakler empor gearbeitet. Inzwischen verdiente er genug, um nicht mehr jeden Cent zweimal umdrehen zu müssen. Und nun hätte er mich gerne neben sich im Büro gesehen.
    Caren fand diesen Gedanken genial und war überzeugt, daß ich damit eine sichere berufliche und einkommensstarke Zukunft hätte.
    Endlich hielt der Bus an der Columbia University. Ich konnte nicht schnell genug hinaus kommen. Im Laufschritt ging es zum College. Ich war viel zu früh. Bis zur ersten Vorlesung war noch massig Zeit. Ich flitzte einmal über den Campus und stand dann atemlos und betrübt vor dem Haupteingang.
    "Hi Al. Wieso so früh heute? Hast du solche Sehnsucht nach Klea?", rief Phil lachend, als er mich entdeckt hatte.
    Ich schüttelte schnaufend den Kopf. Unser Physik Professor konnte mir gestohlen bleiben. "Habt ihr Caren schon gesehen?", fragte ich schwer atmend.
    Ken, der zusammen mit Phil gekommen war, schüttelte auch gleich den Kopf. "Wir sind ja eben erst gekommen. Hast du sie letzte Nacht nicht gefunden?" 
    "Nein. Jack hat mich um 5 Uhr zu Hause abgesetzt." 
"Was hast du Tier nur mit dem Girl gemacht?", flachste Phil.
    Ich war heute nicht zum Spaßen aufgelegt und revanchierte mich mit einigen deftigen Schimpfworten.
    "Hey Al, sie wird schon wiederkommen. So ein Mädchen wie Caren geht doch nicht verloren, wie - wie eine alte Socke. Jetzt mache dir mal keine Sorgen. Caren taucht schon wieder auf. Sie weiß doch, was sie an dir hat", versuchte er mich zu beschwichtigen und fuhr sich mit den Fingern durch die dunkelbraunen Haare, die ihm bis auf die Schultern reichten und ihn von hinten wie ein Mädchen aussehen ließen. Gelegentlich band er sie sogar zu einem Zopf zusammen oder flocht sich irgendwelche bunten Bänder hinein. 
    Phil wäre ohne Probleme von den Hippies im Central Park aufgenommen worden, denn er paßte zu ihnen. Nur das Phil keine Drogen brauchte, um gute Laune zu haben und seine Späße zu machen. 
    Ich warf ihm nur einen kurzen Blick zu und verschwand im Gebäude. Phil war zwar ein sehr lieber Kerl und ein durchaus brauchbarer Freund, wenn es darauf ankam. Doch meist hatte er irgendwelchen Unsinn im Kopf und Ernsthaftigkeit war nicht gerade seine Stärke. Und gegenwärtig hatte ich anderes im Sinn, als Phils Späße. 
    Nachdenklich schlurfte ich zu meinem Platz. Ich hatte auch noch als erstes eine Vorlesung in Physik. Und das nur, weil sich Caren ebenfalls dafür eingetragen hatte. 
    Der Saal füllte sich schnell. Immer wieder sah ich gebannt auf, sobald jemand den Saal betrat. Und immer wieder war es eine Fehlanzeige. Schließlich begann die Vorlesung und von Caren war noch immer nichts zu sehen. Professor Klea begann mit einer physikalischen Vorführung. Diesmal war es jedoch nicht der Physikstoff, der mich vom Unterricht abhielt, sondern die Sorge um Caren.
    Ich wurde ein paarmal aufgerufen, bekam Tadel und konnte mich doch nicht auf den Lehrstoff konzentrieren. Kurz vor Ende der Stunde schnappte ich mir meine Bücher und stapfte zur Tür.
    "Marechal, wo wollen Sie hin? Die Vorlesung ist noch nicht beendet", sagte Klea scharf.
    "Caren suchen!", gab ich kurz Auskunft.
    "Vielleicht haben Sie bemerkt, daß ich mitten in einer Vorführung bin?"
    "Das wäre mir fast entgangen", wurde ich sarkastisch.
    "Marechal, wir befinden uns mitten in einer Vorlesung und da können Sie nicht einfach aufstehen und gehen. Sie vergessen, daß Sie vom College verwiesen werden können."
    "Ihr verdammtes College ist mir im Augenblick scheißegal. Caren ist verschwunden. Sie war die ganze Nacht nicht zu Hause. Wer weiß, was ihr zugestoßen ist? Ich muß sie suchen." 
    "Das ist eine reine Erziehungsfrage und geht Sie nichts an. Das ist Sache der Eltern oder der Jugendfürsorge, oder vielleicht auch noch der City Police", warf Klea ein.
    "Ach, Sie können mich mal!", knurrte ich und eilte aus dem Saal.
    Hinter mir hörte ich Klea einige üble Verwünschungen ausstoßen. Ich kümmerte mich nicht darum. Sollte er nur. Von mir aus konnte er mich sonst wohin wünschen, wenn mir nur jemand sagte wo Caren steckte? Ich hatte nicht mal den Hauch einer Ahnung, wo ich mit der Suche beginnen sollte. Jack und ich hatten ja schon alle bekannten Lokale abgeklappert.
    Mit dem Bus fuhr ich nach Hause, knallte meine Bücher in die Ecke und stapfte zu Dads Hausbar. Außer mir war ja sonst niemand in der Wohnung. Dad war im Büro und Mum verkaufte Gemischtwaren in einem kleinen Laden zwei Blocks weiter. Zwar war sie nicht darauf angewiesen, auch noch arbeiten zu gehen. Aber sie wollte nach draußen und unter Leuten sein und das war es, was ihr an ihrer Arbeit gefiel. Nichts hätte sie davon abhalten können. Es sei denn, Dad oder ich waren krank. Das waren die einzigen Gründe für sie, zu Hause zu bleiben.
Ich setzte die Scotchflasche an und genehmigte mir einen herzhaften Schluck. Das Zeug brannte höllisch in der Kehle und nahm mir für einen Augenblick den Atem. Es schmeckte scheußlich und ich verstand nicht, weshalb man ein solches Tamtam um dieses Zeug machte. Vielleicht schmeckte der zweite Schluck ja besser. Doch auch der zweite Schluck war nicht wesentlich schmackhafter. Jedenfalls war es nichts mit dem man den Durst löschen konnte. Es sei denn, man fand es lustig sich die Geschmacksnerven zu ruinieren. Es hatte jedoch den Vorteil, daß es ziemlich rasch in den Kopf stieg und beruhigte.
    Ich stopfte die Flasche in die Jackentasche und trabte wieder nach unten. Noch einmal lief ich zu Carens Eltern. Dort erfuhr ich, daß Caren noch immer nicht zu Hause war. Doch Mrs. Bernstein hatte bereits eine Vermißtenanzeige bei der City Police aufgegeben.
    Sie berichtete, was sie bei den Cops erfahren hatte. Viel war es nicht. Eigentlich gar nichts. Man hielt Caren für eine ganz normale Ausreißerin. Die Cops würden die Augen offen halten, mehr konnten oder wollten sie vorerst nicht tun, da kein Verdacht auf ein Verbrechen vorlag.
    Allerdings bekam ich von Carens Mutter auch gleich einen Tadel. "Alain, ich verstehe dich ja. Aber ist dir klar, daß du vom College verwiesen werden kannst? Wenn dein Vater davon erfährt, zieht er dir doch das Fell über die Ohren."
    "Ja, wahrscheinlich. Aber ich konnte einfach nicht nur dasitzen und warten, daß etwas passiert. Ich muß Caren suchen. Sie ist nicht einfach davon gelaufen. Das weiß ich. - Wie soll es denn jetzt weitergehen?"
    "Wir können im Augenblick nicht mehr tun, als abwarten. Geh ins College zurück. Du handelst dir nur Ärger ein, wenn du die Vorlesungen schwänzt. Zudem verbaust du dir so nur deine Zukunft. Mache dir nicht alles kaputt. Bitte."
    Ich schüttelte den Kopf. "Ich gehe zu Marta. Vielleicht hat sie etwas von Caren gehört."
    "In Ordnung. Ich rufe dort an, wenn sich etwas ergibt. Die Nummer habe ich ja", seufzte Mrs. Bernstein resignierend. 
    Ich nickte dankend und stapfte nachdenklich durch den Central Park. Gelegentlich nahm ich einen Schluck aus Dads Scotchflasche und fand, daß das Zeug immer besser schmeckte. Naja, jedenfalls nicht mehr ganz so scheußlich wie am Anfang. Jedoch fühlte ich mich nicht mehr ganz so wohl, als ich irgendwann im Village ankam. 
    "Hi Alain, ist das College schon aus?", war Marta erstaunt. 
    "Nein, ich bin vorher schon gegangen. Hast du Caren gesehen?" 
    "War sie denn nicht in der Uni?"
    "Sie war letzte Nacht nicht mal zu Hause", erklärte ich und schob mich auf einen Barhocker.
    Marta sah mich besorgt an.
    "Kann ich ein Bier haben?", fragte ich bedrückt.
    "Bier ist in deiner Stimmung gar nicht gut. Zudem darf ich dir keinen Alkohol ausschenken, das weißt du." Sie brachte mir einen Kaffee.
    Ich stützte den Kopf in die Hände und dachte nach. Zumindest bildete ich mir ein nachzudenken, denn etwas vernünftiges brachte ich nicht zustande. Im Gegenteil, ich wurde nur depressiv und wütend.
    Wieso? Das konnte ich selbst nicht sagen. Genauso wenig, auf was ich wütend war. 
    Den beginnenden Druck im Magen versuchte ich mit weiteren Schlucken aus der Scotchflasche hinunter zu spülen, wenn Marta gerade anderweitig beschäftigt war. Die Tasse vor mir ignorierte ich ebenso, wie die Gespräche der übrigen Gäste. 
    Ich weiß nicht mal mehr, wie lange ich an der Theke saß und in den längst kalten Kaffee starrte, bis ich irgendwann Jacks Stimme hinter mir hörte. "Hi Marta. -Was ist mit Al los?" 
    "Er ist verzweifelt, weil Caren noch immer verschwunden ist", erklärte Marta.
    Die meisten Vorlesungen waren vorbei und ich hatte fast alle verpaßt. Doch was war schon das College? Caren war doch viel wichtiger. Was war bloß geschehen?
    "He, Al! Ich rede mit dir", rief mir Jack plötzlich ins Ohr und stieß mich an.
    "Hm!", brummte ich nur und starrte weiter in den kalten Kaffee.
    "He, Kleiner. Laß den Kopf nicht hängen. Ich bin sicher, daß Caren bald wieder auftaucht. Na komm, ich bringe dich nach Hause."
    "Ach, laß mich doch 'n Ruhe. Was heiß' hier einlich 'Kleiner'? Häls' du dich für größer, nur weil du swei Jahre äller bis'?", knurrte ich unfreundlich und hatte absolut keine Ahnung, was auf einmal mit meiner Zunge los war. Sie wollte mir partout nicht gehorchen.
    Jack runzelte die Stirn und musterte mich neugierig. "He, sag mal, hast du was getrunken?" 
    Marta sah erstaunt zu mir herüber. "Also, bei mir nicht. Seit er hier ist hat er vor ein und derselben Kaffeetasse gesessen."
    "Na komm. Marta sagte mir, daß die City Police bereits verständigt ist. Die werden Caren schon finden", bohrte Jack weiter.
    Ken und Phil schalteten sich nun ebenfalls ein. Auch sie hielten es für besser, wenn ich nach Hause kam. Denn auch sie hatten bemerkt, daß ich keineswegs so nüchtern war, wie sonst.
    "Du kannst doch im Augenblick sowieso nichts tun", warf Phil ein.
    "Ihr nerv' mich. Gönn' ihr mich nich' enlich 'n Ruhe lassen?", fuhr ich auf und kümmerte mich noch immer nicht um das flaue Gefühl im Magen, das noch stärker wurde, als ich etwas umständlich vom Barhocker stieg, auf dem ich bis zu diesem Augenblick gesessen hatte.
    "Wer weiß, wo Caren ist? Vielleicht ist sie tatsächlich nur abgehauen. Vielleicht hat sie einen anderen Kerl gefunden, mit dem sie nun unterwegs ist", schlug Phil vor.
    Ich ignorierte den Umstand, daß der Boden etwas schwankte, sprang mit einem Satz auf Phil zu, packte ihn am Kragen und setzte ihm meine Faust auf die Nase. Normalerweise bin ich absolut kein Schlägertyp und erst recht nicht gegen meine Freunde. Doch die ganze Situation ließ mich einfach ausrasten.
    Phil war von dem Schlag so überrascht, daß er gar nicht an Gegenwehr dachte. Ich knallte ihm noch einmal meine Faust ins Gesicht und funkelte ihn wütend an. Als ich zum dritten Mal ausholte, wurde ich von hinten gepackt und zurückgerissen.
    "Al, hör auf. Spinnst du?", fuhr mich Jack an und hielt mich eisern fest. 
    Phil preßte die Hand unter die blutende Nase und verstand noch immer nicht, was geschehen war.
...

 

Ende der Leseprobe

 

 

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